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Abenteuer: Vorstadtkrokodile

Uwe

hört Hörspiele seit ca. 1973

  • »Uwe« ist der Autor dieses Themas

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Freitag, 4. Februar 2005, 15:05

Vorstadtkrokodile

In dieser Rezi soll es um einen Oldie gehen:

„Vorstadtkrokodile“ (Fontana, 1978)

Ein Hörspiel, dass ich jedem, der sich für gute alte Kinderkrimi-Hörspiele interessiert, nur wärmstens nahelegen kann. Es war in Kindertagen eines meiner Lieblingshörspiele.

Das Cover gibt´s bei www.hoerspielwelten.de zu sehen.


Worum geht´s?

Ruhrpott. Irgendeine Vorstadtsiedlung von Dortmund. Frühe Siebziger Jahre. Schlechte Luft aus den Fabrikschornsteinen. Engstirniges, miefiges Vorortmilieu. Die Prügelstrafe für Kinder, auch fremde, ist noch hoch im Kurs. Die Väter ackern in den Fabriken, die Kinder suchen Zerstreuung vom Stress in der Schule und im Elternhaus. Acht solche Vorstadtkinder bilden die Bande „Die Krokodiler“. Die heißt so, weil jedes Mitglied ein aufgenähtes kleines Stoffkrokodil auf der Jeans tragen darf. Alle sind zwischen 13 und 14 und jagen gemeinsam auf ihren Fahrrädern durch Straßen, Wald und Flur, auf der Suche nach Abenteuern. Wer ein Krokodiler sein will, muss vorher eine gefährliche Mutprobe bestehen, die sich Olaf, der Anführer, ausgedacht hat. Nur Olafs Schwester Maria darf auch so bei den Krokodilern dabei sein. Als einziges Mädchen muss sie ganz schön kämpfen, um sich zwischen all den Rotzlöffeln behaupten zu können. Alle reden natürlich den typischen, mit Schimpfwörtern gespickten Kinder-Slang.
Auch der kleine schmächtige Hannes möchte gern zu den Krokodilern gehören. Und hier setzt das Hörspiel ein, als dieser Hannes sich an die Mutprobe wagt, auf das Dach einer alten baufälligen Ziegelei-Ruine zu klettern. Er schafft es zwar, kommt aber beim Versuch, wieder runterzuklettern, beinahe ums Leben. Zum Glück ist die Feuerwehr rechtzeitig da.
Hannes ist nun mächtig stolz, der neunte Krokodiler zu sein. Bald freundet er sich mit einem Jungen aus der Nachbarschaft an, der nicht zur Bande gehört. Der heißt Kurt und sitzt im Rollstuhl. Hannes besucht Kurt oft und sie spielen zusammen. Hannes bringt Kurt bei den anderen Krokodilern ins Gespräch, aber natürlich wollen die keinen „Krüppel“ in ihre Bande aufnehmen.
Eines Tages, als beide bei einem schweren Gewitter in Kurts Kinderzimmer sitzen, erzählt Kurt Hannes ein Geheimnis, das er noch niemandem zuvor verraten hat: Dass er nämlich vor kurzem eines Nachts die Einbrecherbande beobachtet hat, nach der die Polizei seit Monaten vergeblich fahndet, weil sie keine Spuren hinterlässt, und von der alle im Ort glauben, dass es nur eine Gastarbeiter-Bande aus Türken oder Italienern sein kann.
Klar, dass nun die Krokodiler zusammen mit Kurt Detektive spielen...


Und wie ist´s?

Wer in den Siebzigern großgeworden ist, kennt die Vorstadtkrokodile als Fernsehfilm, der damals bei seiner Erstausstrahlung 1977 sehr gelobt wurde. Ein Kinderkrimi aus Deutschland mit realistischer Milieuschilderung und guten (auch guten Kinder-) Schauspielern, das war was Besonderes! Gedreht wurde der Film nach dem gleichnamigen Jugendbuch von Max von der Grün.

Die Story hat aufklärerische Elemente, denn es soll gezeigt werden, dass ein querschnittsgelähmter Junge natürlich ein absolut gleichwertiges und sogar höherwertiges Mitglied einer Kinderbande sein kann. Außerdem geht´s gegen Spießbürgerlichkeit und Vorurteile. Aus dem tollen, engagierten Buch von Max von der Grün hat Udo W. Wolff eine Klasse-Hörspiel-Adaption verfasst. Natürlich musste er kürzen und konnte längst nicht alle Facetten des Buches unterbringen. Zum Beispiel werden die vielen politischen Aspekte und der Streit zwischen Familien der Krokodiler weggelassen. Das tut dem Hörspiel aber gut, denn so kann es sich voll und ganz auf die Kids konzentrieren.

Hergestellt wurde das Hörspiel 1978 in Hamburg vom bewährten Fontana-Team Lothar Zibell, Hans-Joachim Herwald und Michael Weckler. Und die waren mutig genug, die Krokodiler auch das berühmte Wort mit Sch sagen zu lassen, das damals im Fernsehen noch verpönt war. Und dadurch ist „Vorstadtkrokodile“ vermutlich das allerallererste deutsche Kinderhörspiel, in dem das Wort „Scheiße“ gesagt werden durfte. Auch sonst gelang es blendend, eine authentische Atmosphäre ins Hörspiel zu bringen.

Und die Sprecher?
Nicht alle Krokodiler-Mitglieder sind mit Sprechern besetzt, aber 10 Kinderstimmen wären wohl auch zuviel gewesen.
Wer Kinderbanden-Hörspiele der späten 70er kennt, dem kommen 2 Stimmen sicher bekannt vor: Lutz Schnell und Stefan Chrzescinski waren ja schon ein paar Jahre früher Mitglieder der „Roten Schlange“ von Europa.
Und dann sind da noch Thomas Hinck, Thorsten Warnecke und Jens Paetow. Und Jeanne Weidner als Maria. Sie alle sind leider nicht so populär geworden wie ihre Europa-Kollegen.
Alle machen ihre Sache außerordentlich gut und klingen glaubwürdiger als manche Kindersprecher auf damaligen Europa-Produktionen. Schade, dass diese gute Crew ansonsten nur noch bei mittelmäßigen Enid Blyton-Hörspielen zusammen agieren durfte.
Paul-Edwin Roth mit seiner vertrauenerweckenden Erwachsenenstimme (Typ Alt 68er-Vertrauenslehrer) ist der Erzähler, und auch Konrad Halver taucht kurz auf.

Na ja, und weil in dem TV-Film auch einige damals populäre Rock- und Popsongs zu hören waren, hat einer davon bis heute eine Populärität behalten, die er sonst wahrscheinlich kaum gehabt hätte: „Amada mia amore mio“ ist ein Lied aus den Anfängen der Discowelle mit einem an Plattheit kaum zu unterbietenden Text, hat aber eine zugegeben animierende Melodie und einen guten Tanzbeat. Und weil Fontana scheinbar irgendwie die Rechte an dem Stück hatte, haben sie Ausschnitte davon auch an den Anfang und an das Ende des Hörspiels geklebt. Kommt gut und gehört auch einfach dazu.


Fazit:
„Vorstadtkrokodile“ ist für mich einer der besten Kinderkrimis, die in den guten, alten, verrauchten und ölkrisengeschüttelten Siebzigern auf die Rillen einer Schallplatte bzw. das braune Band einer MC gebracht wurden.

Und zum Schluss noch ein Geständnis: In Maria – und damit auch in ihre Sprecherin Jeanne Weidner – habe ich mich damals heftigst verknallt. Sie ist fürsorglich und verantwortungsbewusst, aber auch mutig und hat eine große Klappe, mit der sie auch den Jungs Paroli bieten kann. So ein prima Mädchen hätte ich mir damals als Freundin gewünscht... ;)

Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »Uwe« (4. Februar 2005, 15:26)


2

Freitag, 4. Februar 2005, 15:26

:applaus:
Dem ist aber auch nichts hinzuzufügen. :) :up:
Gehört für mich zu den besten Fontana-Produktionen überhaupt.
Gruß Molo

3

Freitag, 4. Februar 2005, 16:14

RE: Vorstadtkrokodile

Zitat

Original von Uwe
Na ja, und weil in dem TV-Film auch einige damals populäre Rock- und Popsongs zu hören waren, hat einer davon bis heute eine Populärität behalten, die er sonst wahrscheinlich kaum gehabt hätte: „Amada mia amore mio“ ist ein Lied aus den Anfängen der Discowelle mit einem an Plattheit kaum zu unterbietenden Text, hat aber eine zugegeben animierende Melodie und einen guten Tanzbeat. Und weil Fontana scheinbar irgendwie die Rechte an dem Stück hatte, haben sie Ausschnitte davon auch an den Anfang und an das Ende des Hörspiels geklebt. Kommt gut und gehört auch einfach dazu.

Nicht fontana hatte die Rechte, aber Phonogram-Schwesterlabel Philips war anscheinend so freundlich, die Rechte dafür hausintern weiterzureichen (siehe angehängten Scan) ;)

Aber auch Supertramp haben durch den Streifen zumindest einen kleinen Schub bekommen, weil sich jeder gefragt hat, wie die Musik heißt, mit der der Film eröffnet wurde (zur Erinnerung: Hannes' Kletterszene). Das Stück: "Crime Of The Century". Später wurde auch noch "School" angespielt.

:applaus:
Eine schöne Rezension.

Gruß
Skywise
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Radio Liederlicht
Liedermacher & Co.


Mittwoch.
Skywise: "Ja klar ist der Laden super und so, aber ich mach' da trotzdem einen Bogen drum, denn allein für's Umschauen muß man da schon den großen Geldbeutel dabei haben."
Kollegin: "Ach was, das geht auch ohne. Mit EC-Karte zum Beispiel."

Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »Skywise« (4. Februar 2005, 16:17)