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Samstag, 16. August 2008, 23:30

Chris Cleave: Lieber Osama

Chris Cleave
"Lieber Osama"

[isbn]3870240075[/isbn]

8 CDs, 565 Minuten
Gelesen von Sophie Rois
Argon, 2006


Am 1. Mai fliegt in London während der Begegnung Arsenal gegen Chelsea das Fußballstadion in die Luft - ein groß angelegtes Selbstmordattentat, dem über tausend der anwesenden Fußballfans zum Opfer fallen. Unter ihnen befinden sich auch der Ehemann und der vierjährige Sohn einer jungen Mutter, die von diesem Ereignis völlig aus der Bahn geworfen wird. Sie beschließt, an den Al-Qaida-Führer Osama bin Laden, der für dieses Attentat verantwortlich gemacht wird, einen Brief zu schreiben, der ganz allgemein von ihren Gefühlen als Mutter berichten soll. Nebenbei schildert sie ihr Leben nach dem Attentat, das sich radikal verändert hat, nicht nur aufgrund ihres persönlichen Verlustes, sondern auch durch neue Schutzmaßnahmen der Regierung, die das Leben aller sicherer machen sollen.

Der Journalist und studierte Psychologe Chris Cleave, Jahrgang 1973, lieferte mit "Lieber Osama" (Originaltitel: "Incendiary") seinen Debüt-Roman ab. Wie es der Zufall wollte, fiel der Tag des Erscheinens (7. Juli 2005) mit dem ersten Anschlag auf den Londoner Nahverkehr zusammen, was diesen Roman schnell ins Rampenlicht rückte und - aufgrund der kaum versteckten Kritik an der Vorgehensweise der USA - für internationale Diskussionen sorgte.

Faszinierend, daß man erst nach einigem Kauen feststellt, wie hart dieser Brocken eigentlich ist. Der Anfang kommt noch in einem ziemlich lockeren Plauderton daher, man kann sogar hin und wieder über die Briefeschreiberin und ihr Schandmaul lachen, mit dem sie einige Dinge kommentiert. Mit dem Attentat ist es erwartungsgemäß mit der gelösten Stimmung natürlich vorbei, aber noch immer weicht die Protagonistin nicht von ihrem einfachen Plaudern ab, und auch ihre Schlagfertigkeit und ihren Witz stellt sie immer wieder unter Beweis. Dabei hilft ihr sicher, daß sie Osama bin Laden auf Augenhöhe begegnet - sie macht ihm Vorwürfe, sie bezeichnet ihn als Mörder, aber gleichzeitig versucht sie, ihm die Gefühle einer Mutter verständlich zu machen, von deren Angehörigen nichts weiter übrig blieb als einige Zähne und eine einfache Stoffpuppe. Sie nimmt ihn dabei durchaus ernst und versucht, die Kluft zwischen den Kulturen zu überwinden, indem sie bestimmte Eigenarten der Londoner und der westlichen Situation beschreibt. Darüber hinaus berichtet sie von einem Leben in einer Gesellschaft, die sich nach dem Attentat Stück für Stück abzuschotten versucht, was sie selbst nicht nachvollziehen kann. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird der von ihr angeschlagene Ton jedoch immer düsterer und das Lachen bleibt einem häufiger im Halse stecken. Man merkt, daß in dieser Extremsituation vieles, was anfangs noch völlig absurd klang, tatsächlich Realität werden könnte.

Sophie Rois, die bereits 2002 mit ihrem Hörbuch-Debüt "Inzest" ihr Gespür für zerrüttete und komplexe Persönlichkeiten bewiesen hat, liest dieses Buch einfach großartig. Da sitzt jede einzelne Szene, egal, ob sie die von Tabletten und Alkohol zugedröhnte Trauernde gibt, die liebevolle Mutter oder die fassungslose Frau, die ansehen muß, wie ihre Welt in Flammen aufgeht. An einigen Stellen scheint sie auch hörbar ihren Spaß gehabt zu haben aufgrund der bildhaften Beschreibungen bestimmter Personen oder Situationen. Einige Szenen, in denen die Briefeschreiberin innerhalb zweier Sätze vom intimen Flüstern zum bösen Keifen übergeht, muß man so auch erst mal verdauen. Ihr ist es größtenteils zu verdanken, daß die restlichen Figuren trotz ihrer manchmal ziemlich klischeehaften Verhaltensweisen nicht ganz so blaß bleiben und einige sentimentale Augenblicke, die teilweise stark an Seifenopern erinnern, nichts von ihrer Spannung einbüßen.

Ein mutiges, kritisches Werk, finster und atmosphärisch dicht, gesprochen von einer überragenden Sophie Rois. An diesem Hörbuch sollte man nicht vorbeigehen.

Gruß
Skywise
Radio Liederlicht
Liedermacher & Co.


Mittwoch.
Skywise: "Ja klar ist der Laden super und so, aber ich mach' da trotzdem einen Bogen drum, denn allein für's Umschauen muß man da schon den großen Geldbeutel dabei haben."
Kollegin: "Ach was, das geht auch ohne. Mit EC-Karte zum Beispiel."

irina

kriseninterventionsteam

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Beruf: datenschutzbeauftragte

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Mittwoch, 20. August 2008, 22:14

ich bin echt am schwanken, ob mich das interessiert oder nicht … dem titel nach überhaupt nicht, dem klappentext nach auch nicht. deine bewertung macht mich aber doch neugierig. ich denk noch mal nach! :gruebel:
»Alles, was Spaß macht, ist entweder unmoralisch, illegal oder macht dick. In besonders spaßigen Fällen alles auf einmal.« (Mae West)