Darf man nachfragen, ob sich Deine Oma noch bester Gesundheit erfreut (Jahrgang 27, wenn ich das richtig im Kopf hab)?
Danke der Nachfrage; sie residiert (oder sollte ich besser sagen: "sie herrscht?") jetzt seit fast zwei Jahren voller Widerwillen in einem Seniorenheim. Sie war zuvor im Rahmen der Tagespflege in einer anderen Einrichtung, hat sich aber mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dort dauerhaft einzuziehen, weil "sind doch nur alte Leutchens". So sprach sie auch noch, als sie die Älteste des Häufleins war. Körperlich und vor allem geistig ging es (und geht es) allerdings kontinuierlich bergab, Zweimal hat sie sich erfolgreich gegen das familäre "Jetzt sollteste aber wirklich mal drüber nachdenken" gewehrt, dann hat ein Sturz auf der Treppe, der nach ihrer heutigen Lesart natürlich niemals stattgefunden hat und dessen vernarbten Rest sie bereits seit Jugendzeiten mit sich rumträgt, Nägel mit Köpfen notwendig gemacht, und einen Monat vor dem 52. Jahr ihres Mietvertrags ist sie dann umgesiedelt. Seitdem vergeht kein Besuch, bei dem sie sich nicht über irgendwas oder irgendwen beschwert und uns verspricht, daß sie morgen wieder in ihre Wohnung zurückkehrt.
Sie hat im Heim ein paar lustige Krankheiten mitgemacht, darunter auch Corona, ihrer Darstellung nach aus Gruppenzwang, meiner Meinung nach aus Blödheit ersten Grades, aber andererseits - solange die Krankheiten glimpflich ablaufen und wenigstens zeitweise für eine zusätzliche thematische Bandbreite sorgen ... Ansonsten - keine Ahnung, wie das bei anderen Fällen ist, aber meine Wahrnehmung ist, daß ihr Kurzzeitgedächtnis mittlerweile arg mitgenommen ist, und ihr Langzeitgedächtnis sich quasi aus der heutigen Zeit zurückzieht, immer weiter in ihre Vergangenheit, was schon mal zur Folge hat, daß sie mich an einer Stelle kurz nach ihrer Schulzeit verortet und sich mit mir über ein paar Sachen unterhalten möchte, bei denen ich erinnerungstechnisch nicht mithalten kann. Ihr Bruder ist vor vier Jahren eine Woche vor seinem 100. Geburtstag verstorben, was wir verstanden haben als "Da kommt noch was auf uns zu", und bis jetzt haben wir damit richtig gelegen. Fachliteratur und Betroffenenberichte sagen: "Wartet erst mal ab, bis das Langzeitgedächtnis ganz weg ist, dann beginnt nämlich die schönste Zeit", von daher sind wir schon mal gespannt. Allerdings mag Oma es genießen, daß wir auf einige medizinische Sachen keine große Rücksicht mehr nehmen wie etwa Blutzuckerspiegel oder so. Erstens können wir's in der extremen Form ohnehin nicht mehr kontrollieren, zweitens - was soll's, dann giftet sie uns wenigstens nicht an, wenn sie ihre tägliche Dosis Süß nicht bekommen hat ... mit anderen Worten: sie kann sich beschweren, die kann essen, was sie will, sie kann ihren aktuellen Hofstaat herumscheuchen - ich schätze, es geht ihr gut.
Gruß
Skywise